Bevor es darum geht, eine Rede zu halten oder einen Text zu schreiben, müssen wir uns dem widmen, was in der Rhetorik als Inventio bezeichnet wird, auf Deutsch: die Stoffauffindung. [1] Das ‚Auffinden‘ steht dabei für einen Prozess, der etwas komplexer ist als das bloße sich Umschauen. Es geht vielmehr um das gezielte und überlegte Aufspüren von Informationen, Themen oder – beim Abfassen einer Rede – von Argumenten, die „den eigenen Standpunkt plausibel machen“, wie Cicero schreibt. [2] In der Spätantike haben die lateinisch sprechenden Menschen dafür ein eigenes Wort geprägt, das Verb circare. Es wurde später ins Französische übernommen (rechercher) und ging von dort ins Deutsche ein: recherchieren. [3]
Am Anfang einer Recherche steht entweder (1) eine Hypothese, also eine Annahme über einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, die als wahr oder falsch zu erweisen ist; oder (2) eine Information, deren Status (ebenfalls: wahr oder falsch) zu klären ist.
Um die Hypothese oder Information gedanklich richtig einordnen zu können, ist es erforderlich, den Sachverhalt oder die Information im Kontext zu verstehen. Wir müssen uns Fragen stellen wie: Um welche Art von Prozess, Hergang oder Information handelt es sich? Wie ist es dazu gekommen? Welche Personen haben sich dazu geäußert? Sind sie glaubwürdig? Gibt es analoge Erscheinungen, Sachverhalte, Informationen, die bereits als wahr erwiesen worden sind – und von wem? Gibt es Aussagen, Daten, gesicherte Fakten dazu? Stammen diese aus einer oder aus mindestens zwei unabhängigen Quellen? – Und sind sie von mehreren Menschen unabhängig voneinander als wahr bestätigt worden? Entspricht unser Handeln der im Pressekodex [5] geforderten Sorgfaltspflicht?
Abschließend sind die gewonnenen Informationen zusammenzustellen und gegeneinander abzuwägen. Was erscheint uns plausibel? Und warum? Können wir dies sachlich begründen? Oder müssen wir in manchen Punkten noch einmal nachrecherchieren?
Abschließend stellen wir unsere Befunde zur Deutung eines Geschehens, zur Verifizierung einer Hypothese oder zur Beurteilung eines Sachverhaltes zusammen.
Suchen und Finden im Internet ist einfach. Aber um daraus eine Recherche zu machen, geht die Arbeit nach dem Finden erst los. Und das bedeutet nicht nur, dass wir die Quellen, wie eben dargestellt, überprüfen. Es heißt auch, dass wir berücksichtigen, wie der Findungsprozess abgelaufen ist. Denn dabei kommt es häufig zu Verzerrungen – durch Filterblasen und Bots.
Die größten Verzerrungen bei Suchprozessen im Internet gehen auf die so genannten Filterblasen zurück. Das Phänomen der ‚Blase‘ ist uns aus der analogen Welt vertraut: Wenn wir nur Bestätigung für unsere Meinungen erhalten und uns andere Menschen niemals Kontra geben, leben wir in einer Meinungsblase. Diese kommt zustande, wenn wir ausschließlich mit Menschen zu tun haben, deren Interessen ähnlich gelagert sind und die die gleichen Informationsquellen nutzen. Diese Menschen bilden dann unseren Echoraum.
Online kommt es zu einem analogen Phänomen, wenn Suchmaschinen oder Feeds der Sozialen Netzwerke Informationen filtern. Für diese spezielle Blase hat sich der Terminus Filterbubble/Filterblase, eingebürgert. Er geht auf den Politaktivisten Eli Pariser zurück. [6] Ihm war aufgefallen, dass er auf Facebook eine Reihe von Freunden aus den Augen verlor, die politisch anders als er orientiert waren. Der Grund: Der Algorithmus von Facebook hatte sie aufgrund seines Bewegungsprofils im Internet aus seinem Newfeed herausgefiltert.
Diese ungebetene Dienstleistung, News-Feeds oder Suchergebnisse zu personalisieren, sind bei Suchmaschinen und Plattformen im Internet Standard. Sie behindert Recherchen maßgeblich. Wie Katharina Nocun und Pia Lamberty [7] sowie Michael Butter [8] im Zusammenhang mit der Verbreitung von Verschwörungserzählungen im Internet gezeigt haben, bekommen Recherchierende in ihren Suchergebnissen vornehmlich Treffer angezeigt, die zu ihren vorherigen Suchen passen. Das führt dazu, dass sich Suchende kein ausgewogenes Bild von ihrem Suchobjekt mehr machen können. Es ist auch ein Grund dafür, dass bestimmte Meinungen im Internet aufgeschaukelt werden. Dem Wirken der Algorithmen ist nur schwer zu entkommen. Vor allem bei kontrovers diskutierten Themen ist dies bei jeder Recherche zu berücksichtigen und beim Suchen gegebenenfalls zusätzlich auf ein Gerät eines Kollegen oder einer Kollegin auszuweichen.
Bots – eine abgeleitete Kurzform von englisch ‚Robots‘ – sind Computerprogramme, die auf Basis von Algorithmen verschiedene einfache oder komplexe Aufgaben erfüllen und dabei selbständig und automatisiert agieren. Bots kommen in den unterschiedlichsten Bereichen des Internets zum Einsatz und bieten Services an, die sowohl legalen als auch illegalen Zwecken dienen können.
Gutartige Bots sind zum Beispiel so genannte Social Bots, die automatisierbare Aufgaben in sozialen Medien übernehmen. Sie kommen dort vornehmlich in den Bereichen FAQ, Hilfe, Direct Messaging zum Einsatz, aber auch bei der Kommentierung von Beiträgen oder Likes, bei Shares, Retweets und im Following.
Im Zusammenhang mit Recherchen ist vor allem auf das Wirken von Malware Bots oder Schad-Bots zu achten, vor allem auf die so genannten Propaganda-Bots oder Manipulative Bots: Sie funktionieren wie Social Bots, nur dass sie User-Profile simulieren, digitale Meinungsbildung betreiben und gezielt politische Aussagen, Fake News und Verschwörungstheorien verbreiten. Außerdem können sie, von Schlüsselbegriffen ausgelöst, gezielt auf Kommentare und Posts von Usern reagieren. Damit verzerren sie deren Wahrnehmung im World Wide Web und tragen das ihre zur Bildung von Fiterblasen bei.
Auch die technische Entwicklung in den digitalen Medien fordert unsere Urteilskompetenz im Zusammenhang mit Internetrecherchen immer stärker heraus. Wie lassen sich angesichts der nahezu perfekten manipulatorischen Möglichkeiten in Audio und Video (Deep Fakes) [9] reale Beiträge im Internet von Trollbeiträgen in Diskussionsforen und Newsgroups unterscheiden? Wie von entsprechenden Statements in Chatrooms und Mailinglisten, von Einträgen in Wikis und Blogs ganz zu schweigen? Hier ist bei Recherchen im Umgang mit den digitalen Medien höchste Vorsicht geboten.
Schließlich verlangt uns die weltweite Digitalisierung auch Data Literacy ab, also die Fähigkeit, Daten auf kritische Art und Weise zu sammeln, zu handhaben, zu bewerten und anzuwenden. [10] Wie Katharina Schüller, Paulina Busch und Carina Hindinger für das Hochschulforum Digitalisierung herausgearbeitet haben, umfassen die Future Skills der Data Literacy nicht nur das Kodieren von Daten –also das Etablieren einer Datenkultur sowie das Bereitstellen und Auswerten von Daten. Es geht im gleichen Maße darum, Kompetenzen im Dekodieren von Daten aufzubauen. Das ist für Recherchen besonders wichtig ist, weil es dabei darum geht, wie man Ergebnisse und Daten interpretiert und (datengetriebenes) Handeln davon ableitet.
Recherchieren ist mehr als nur etwas im World Wide Web finden. Es ist eine äußerst komplexe Tätigkeit, die viel Zeit, Urteilsvermögen und eine kritische Haltung erfordert – und das auch immer wieder gegenüber dem eigenen Standpunkt. Vor allem aber setzt sie eine Vielzahl von Kompetenzen voraus, die wir als Recherchierende in unserer digitalisierten Welt ständig erweitern müssen.
[1] Manfred Kienpointner: Inventio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 4. Tübingen 1998, Sp. 561-587. – [2] Cicero: De inventione I.9; auch: Auctor ad Herennium I.3. – [3] Michael Haller: Recherche. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 7. Tübingen 202005, Sp. 640-649, hier Sp. 640. Grundlegend: Michael Haller: Methodisches Recherchieren. 8. Auflage. Konstanz 2016. Zum Thema auch: Matthias Brendel, Frank Brendel, Helge Reich, Christian Schertz: Richtig recherchieren: Wie Profis Informationen suchen und besorgen. Ein Handbuch für Journalisten und Öffentlichkeitsarbeiter. 8. Auflage. Frankfurt am Main 2016. – [4] Definition orientiert an: M. Haller: Recherche. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 7. Tübingen 2005, Sp. 640-649, hier: Sp. 641. – [5] Publizistische Grundsätze (Pressekodex) des Deutschen Presserats – [6] Eli Pariser: The Filter Bubble. What the Internet Is Hiding From You. London 2011. – [7] Katharina Nocun, Pia Lamberty: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Köln 2020, S. 127ff. – [8] Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. 4. Auflage. Frankfurt am Main 2020, S. 187f. – [9] Ich danke Herrn Prof. Dr. Damian Borth, Professor of Artificial Intelligence & Machine Learning, University of St. Gallen für seine anschaulichen und eindrücklichen Beiträge zu dem Thema Deep Fakes auf dem Workshop „Fake News“des Roman Herzog Instituts am, 04.03.2021. – [10] Katharina Schüller, Paulina Busch, Carina Hindinger: Future Skills: Ein Framework für Data Literacy. Kompetenzrahmen und Forschungsbericht. Hochschulforum Digitalisierung Nr. 47/August 2019, PDF zum Download: Dazu auch: European e-Competence Framework 3.0. Ein gemeinsamer europäischer Rahmen für ITK-Fach- und Führungskräfte in allen Branchen. 2014, PDF zum Download.
Matthias Brendel, Frank Brendel, Helge Reich, Christian Schertz: Richtig recherchieren: Wie Profis Informationen suchen und besorgen. Ein Handbuch für Journalisten und Öffentlichkeitsarbeiter. 8. Auflage. Frankfurt am Main 2016. – European e-Competence Framework 3.0. Ein gemeinsamer europäischer Rahmen für ITK-Fach- und Führungskräfte in allen Branchen. 2014. – Michael Haller: Methodisches Recherchieren. 8. Auflage. Konstanz 2016. – Michael Haller: Recherche. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 7. Tübingen 202005, Sp. 640-649. – Manfred Kienpointner: Inventio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 4. Tübingen 1998, Sp. 561-587. – Katharina Schüller, Paulina Busch, Carina Hindinger: Future Skills: Ein Framework für Data Literacy. Kompetenzrahmen und Forschungsbericht. Hochschulforum Digitalisierung Nr. 47/August 2019.