Die zweite Amtszeit des wiedergewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron beginnt am 14. Mai 2022. Eine Woche vor diesem Datum, am 7. Mai 2022, wurde ihm in einer Zeremonie zur Amtseinführung (Cérémonie d’Investiture) vom Präsidenten des französischen Verfassungsgerichts (Conseil Constitutionel) Laurent Fabius das Präsidentenamt erneut übertragen. Zentraler Bestandteil der Investitur-Zeremonie im Elysée-Palast ist traditionell die Ansprache des neuen Staatspräsidenten. Emmanuel Macron hielt eine kurze, rund zehnminütige programmatische Rede. [1] Selbst wenn vergleichbare öffentliche Reden heute gerne mit Teleprompter gehalten werden, entschied sich Macron für das Ablesen vom Papier. Das verlieh seinen Äußerungen etwas nachdrücklich-konzentriertes. Den Blickkontakt zum Publikum hielt Macron auch auf diese Weise.
Gleich zu Beginn seiner Ansprache macht Emmanuel Macron deutlich, dass er sich der aktuellen schwierigen Lage bewusst ist. Er nennt den Krieg in Europa, die Pandemie und die drängenden ökologischen Probleme, verweist aber auch viele weiterer Krisen, die Laurent Fabius bei der formellen Investitur eindrücklich angesprochen hatte. Nur selten, sagt Macron, habe sich die Welt und Frankreich einer derartigen Gemengelage von Herausforderungen gegenübergesehen.
Macron schließt eine Würdigung der Entscheidung der französischen Wählerinnen und Wähler an. [2] In einer Zeit, in der viele Völker sich abschotteten, den Reizen von Nationalismus, nostalgischen Gefühlen und ideologischen Lockrufen nachgegeben hätten, habe sich das französische Volk für ein klares Zukunftsprojekt entschieden: ein republikanisches und europäisches Projekt, ein Projekt wissenschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritts im Geiste der Aufklärung. Die französischen Wählerinnen und Wähler hätten auf diese Weise „einfach gestrickten Demagogien“ den Rücken gekehrt. In diese captatio benevolentiae – gewissermaßen eine verbale Verbeugung – gegenüber seiner Wählerschaft bindet er seine beiden Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy und François Hollande (ohne sie namentlich zu nennen) ein, die – ein Novum bei dieser Amtseinführung – bei der Zeremonie zugegen sind. Macron macht klar, dass er sich der Wählerentscheidung verpflichtet fühlt.
Ihm ist es dabei wichtig, bei seiner zweiten Amtszeit den Neuanfang zu betonen. [3] „Das französische Volk“, dekretiert er, „hat das abgelaufene Mandat nicht verlängert, das am 14. Mai 2017 begonnen hat.“ Er spricht von einem „neuen Volk, das sich von dem vor fünf Jahren unterscheidet“, und das „einem neuen Präsidenten ein neues Mandat übertragen hat.“ Damit will er offensichtlich keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er wirklich Neues vorhat. Zwei seiner wiedergewähnten Amtsvorgänger, François Mitterand und Jaques Chiarc waren kritisiert worden, dass sie in ihrer zweiten Amtszeit wie zuvor weitergemacht hätten.
Den Neuanfang sieht Macron in einem entschlossenen Handeln für Frankreich und für Europa – auf verschiedenen Ebenen. [4] Immer wieder – insgesamt zehn Mal – leitet er seine programmatischen Äußerungen mit „agir“ („handeln“) ein. Er benennt die wichtigsten Aufgaben, die es anzugehen gilt. Macron spricht vom Krieg in der Ukraine, der ein Handeln für die Demokratie erfordere, von der Aufgabe, einer neuen europäischen Friedensarchitektur und Autonomie; von Investitionen in ein neues „Frankreich 2030“, das landwirtschaftlich, industriell, wissenschaftlich und kreativ stärker als heute dastehen solle; von einem Frankreich der Vollbeschäftigung und gerechten wirtschaftlichen und sozialen Teilhabe; einem Frankreich als ökologischer Macht. Macron nennt Schule und Gesundheitssystem als weitere Aufgabenfelder sowie die Gleichheit von Männern und Frauen, innere und äußere Sicherheit und die große Mission, in Frankreich Stadt, Land und die überseeischen Gebiete zusammenzuführen. „Ja“, betonte er, „unermüdlich handeln, mit einem klaren Kurs: eine unabhängigere Nation zu werden, besser zu leben und französische und europäische Antworten auf die Herausforderungen unseres Jahrhunderts zu geben.“ Dabei ist sich Macron bewusst, dass Frankreich gegenwärtig von zahlreichen Ängsten beherrscht und von Brüchen gezeichnet ist. Angesichts dessen betont er: „Handeln heißt … nicht, das Land zu verwalten und dem Volk Reformen vorzusetzen wie vorgefasste Lösungen. Handeln geht in diesen Zeiten nur mit Respekt, Austausch und Wertschätzung, indem man alle einbezieht und mitnimmt.“
Davon ausgehend entwickelt Macron seine Vorstellungen gemeinsamen Handelns: [5] „Wir müssen alle zusammen ein neues Verfahren entwickeln, das sich stark von den eingespielten Handlungsweisen und ausgetretenen Pfaden (er spricht von „Choreografien“) abhebt und durch das allein wir ein neues, leistungsfähiges, soziales und ökologisches Vertragswerk entwickeln können.“ Dafür sind Reformen auf allen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen erforderlich. Darin sieht er die „Wiedergeburt der Demokratie“, die Frankreich so dringend nötig habe und zu der alle tagtäglich beizutragen hätten.
Um dieses große Projekt auf den Weg zu bringen, beschwört Macron die Stärke Frankreichs: [6] „Meine Damen und Herren, unsere Vergangenheit ist der schlagende Beweis dafür: In den schwierigsten Zeiten hat Frankreich sein Bestes hervorgebracht.“ In größter Bedrängnis wüchsen die Franzosen über sich hinaus. Und so sei es auch jetzt: „Wir befinden uns in einer Lage, wo das Jahrhundert aus den Fugen gerät und … wir gemeinsam einen Pfad bahnen und einen Weg weisen müssen. Für mich steht fest: Wir sollten den Mut haben, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, um unser Ideal konkreter zu fassen und uns nicht Trugbildern hingeben.“
Macron leitet so zu einem Handlungsaufruf (‚Call to Action‘) an alle Französinnen und Franzosen über. [7] Er beschwört die Treue zu den Werten der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sowie des Laizismus. Die gemeinsame Aufgabe bestehe aber ebenso darin, die französische Geschichte und Sprache in Ehren zu halten, die Republik zu lieben, das Gemeinsame über Einzelinteressen zu stellen, die Wahlentscheidung zu respektieren und die Gesetze zu achten, die den Schlüssel zum Sozialvertrag bildeten. Er ruft zur Liebe des Vaterlands auf „wo man von der Hochebene der Gergovie (Auvergne) bis zu den Grenzen der Marquises (Archipel des Marquises/Karibik), von den Pyrennäen meiner Kindheit bis zu meinen Ebenen der Picardie das Herz dieses alten, dort verwurzelten Volks schlagen hört, das der Welt die irrwitzigsten Traumideen („les rêves les plus fous“) geschenkt hat: den Humanismus, die Aufklärung, die Menschenrechte.“ Aufbauend auf die Liebe zum Vaterland, sagt Macron, könne Frankreich der Welt weiterhin eine Inspriation sein.
Was ihn selbst betrifft, so gibt er seinerseits ein Versprechen ab. [8] Sein täglicher Kompass stehe auf ‚dienen‘. Dienen – „unserem Land … unseren Mitbürgern“ und schließlich „unseren Kindern“, an die er in diesem Augenblick denke und denen er das Versprechen gibt, ihnen „einen lebenswerteren Planteten und ein lebendigeres und stärkeres Frankreich“ zu hinterlassen.
Es sind vor allem zwei rhetorische Stilmittel, mit denen Emmanuel Macron seiner Rede Kraft verleiht: Er verwendet Anaphern, wiederholt also Worte oder Wortgruppen zu Beginn aufeinanderfolgender Sätze oder Satzteile. Und er bedient sich passagenweise einer äußerst bildreichen Sprache.
Dies zeigt sich schon im zweiten Absatz seiner Rede, wo er von dem Zukunftssprojekt („projet d’avenir“) spricht, für das sich die französischen Wählerinnen und Wähler entscheiden hätten. Die Anaphern („Un projet républicain et européen, …. Un projet de progrès scientifique, … un projet fidèle à l‘ésprit …“) durchsetzt er mit Bildern. Er spricht von den Ideologien, von denen er glaubt, sie an den „Ufern des vergangenen Jahrhunderts zurückgelassen zu haben“ („d’idéologies dont nous pensions avoir quitté les rives au siècle précédent“), er spricht vom „Geist, der seit der Aufklärung unablässig unsere Länder durchzieht“ („l’ésprit qui, depuis les Lumières, n’a cessé de souffler sur nos terres“), davon, dass die Wählerschaft bestimmten Ideologien „den Rücken zugewandt“ habe („tournant le dos“), davon, dass sich diese Wahl „in die Geschichte unserer Republik“ einschreibe („s’inscrit dans l’histoire de nôtre République“).
Besonders eindrücklich wirkt auch die mit der Anapher verwandte Wiederholung der Endwörter (Epiphern) in den Satzgliedern des folgenden Redeabschnitts, in dem Macron den Neuanfang in seiner zweiten Amtszeit betont („peuple nouveau … Président nouveau … mandat nouveau…“).
Macron kehrt gleich darauf zur Verwendung von Anaphern zurück, wenn er von all dem spricht, was auf vielen Gebieten nun dringend anzugehen sei. Zehn Mal hintereinander beginnt er Sätze oder kurze programmatische Abschnitte mit dem Wort „agir“ („handeln“) und macht so mit allem Nachdruck deutlich, worum es ihm geht: Um Aktivität, Aktivität und nochmals: Aktivität.
Bilder setzt Macron dann wieder ein, wenn er sich direkt an seine Zuhörer wendet, wenn er von den schwierigen Zeiten spricht, die heraufziehen („se lève le vent du tragique“), vom Schreiben der Geschichte mit universellem Anspruch („écrire l’histoire à l’encre universel“), vom Erkunden neuer Pfade und dem Weisen neuer Wege („tracer un chemin … montre une voie“), davon, der Realität ins Auge zu schauen („regarder le réel en face“). Kurz darauf weckt er Assoziationen und evoziert persönliche Erinnerungen, wenn er Frankreich als das Land umreißt, das sich „von der Hochebene der Gergovie bis zu den Grenzen der Marquises, von den Pyrennäen meiner Kindheit bis zu meinen Ebenen der Picardie“ erstreckt.
Besonders in der zweiten Hälfte seiner Ansprache macht Emmanuel Macron deutlich, woraus seiner Meinung nach Frankreich seine Kraft bezieht: Aus den Werten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und dem Laizismus sowie aus der Geschichte, Sprache und Kultur des Landes. Dabei zeichnet er in seiner Ansprache ein durchaus eigenes Bild der Geschichte. Zwei Beispiele mögen das veranschaulichen.
Wenn Emmanuel Macron von der französischen Sprache spricht, die es zu achten gelte, erwähnt er den Abbé Gregoire, der von dem Französischen als „universeller Sprache“ gesprochen habe. Das ist richtig. Mit dem berühmten Bischof und Politiker aus der Zeit der Französischen Revolution – mit vollem Namen Henri Jean-Baptiste Grégoire (1750-1831) – ist aber gerade in der Sprachenfrage eine weitere von ihm propagierte Idee verbunden, die heute durchaus kritisch gesehen werden kann. Das erklärte Ziel on Grégoire war es, in Frankreich alle Regional und Minderheitensprachen zurückzudrängen und letztlich zu unterdrücken, die von der in Paris gepflegten französischen Hochsprache abweichen. Angesicht der heutigen Appelle zur Achtung von (auch sprachlichen) Minderheiten ist Abbé Grégoire als Sprachautorität also ein eher zweifelhaftes Vorbild.
Interessant ist auch, dass Emmanuel Macron den Humanismus als Geschenk der Franzosen an die Welt bezeichnet. Frankreich hat zweifelsohne einflussreiche und berühmte Humanisten hervorgebracht – Guillaume Budé, François Rabelais, Michel de Montaigne, um nur einige zu nennen. Die Wurzeln des Humanismus liegen jedoch in Italien.
Emmanuel Macron hat eine eindrucksvolle und nachdrückliche Rede gehalten. Bei rhetorischen Stilmittel setzt er auf Wiederholungsstrukturen (Anapher, Epipher) und bildhafte Ausdrücke. Der Inhalt seiner Rede in zwei Sätzen: Es geht Macron um einen Neuanfang, mit dem er alle Französinnen und Franzosen gemeinsam zum programmatischen Handeln und ihn selbst zum Dienen verpflichtet. So möchte er von Frankreich ausgehend Europa und die Welt vor allem ökologisch, wirtschaftlich und sozial voranbringen.
[1] Redemanuskript (Discours du Président de la République lors de la Cérémonie d’investiture) abrufbar unter: https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2022/05/07/ceremonie-dinvestiture-du-president-de-la-republique Dort auch ein Videomitschnitt der Zeremonie.– [2] Discours du Président de la République, S. 1, zweiter Absatz. – [3] Ebd, S. 1, dritter Absatz. – [4] Ebd. S. 1, vierter Absatz bis S. 2, dritter Absatz. – [5] Ebd., S. 2, Absatz 4. – [6] Ebd., S. 2, Absatz 5. – [7] Ebd., S. 2, Absatz 6 bis vorletzter Absatz. – [8] Ebd., S. 2 letzter Satz bis Ende des Manuskripts.
Bild: © Plakat der Wahlkampagne Emmanuel Macron 2022 https://avecvous.fr/tracts-et-affiches