Es ist ein weitverbreiteter und beharrlicher Irrtum, dass wir Menschen alle dasselbe hören. Das Gegenteil ist der Fall: Unser Hören ist individuell. Alles, was wir über unsere Ohren aufnehmen, wird von uns unbewusst gefiltert. Die Filter, die dabei zum Einsatz kommen, sind von Verschiedenem geprägt: Von den Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben, von unseren charakterlichen Eigenschaften, aber auch von den Situationen, in denen wir uns befinden.
Unsere Lebenserfahrung wirkt zum Beispiel aufgrund folgender Faktoren auf unser Hören ein:
Die Kultur(en), in der oder mit denen wir aufgewachsen sind: Das Land oder die Länder, die dort herrschenden Konfessionen oder Ideologien, unsere ethnische Abstammung, unsere Zugehörigkeit zu Mehrheiten oder Minderheiten und welche Stellung sie in der Gesellschaft haben, ob wir in der Stadt oder auf dem Land aufgewachsen sind.
Unser Geschlecht und welcher Raum ihm in der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, für Entwicklung und Entfaltung gegeben wird.
Die soziale Herkunft mit all den Zuschreibungen, die wir selbst und andere mit dieser verbinden.
Die Sprache(n), mit der oder mit denen wir aufgewachsen sind, mit ihren unterschiedlichen grammatischen und syntaktischen Strukturen und Semantiken.
Die Familie, in die wir hineingewachsen sind und in der wir sozialisiert wurden. Der Einfluss des Vaters und/oder der Mutter. Der Unstand, ob wir als Einzelkind aufgewachsen sind oder mit Geschwistern, auf die wir Rücksicht nehmen oder gegen die wir uns durchsetzen mussten.
Werte, die wir von Verwandten, Freunden, Lehrern vermittelt bekamen oder an denen wir uns orientieren, weil sie von Menschen vertreten und gelebt werden, die wir als Vorbilder ansehen oder die für uns eine Autorität darstellen. Unser Festhalten an ihnen oder unser Hinterfragen und Ablehnen dieser Werte in bestimmten Lebensphasen.
Die Ausbildung, die wir absolviert haben – oder eben nicht. Ob wir studiert haben und wenn ja: welches Fach? Ob wir Geistes-, Sozial-, Naturwissenschaftler*innen sind oder in medizinischen oder ingenieurwissenschaftlichen Fächern ausgebildet wurden.
Der Beruf, in dem wir tätig sind.
Dazu kommen situationsgebundene Faktoren, die dann zum Tragen kommen, wenn wir anderen Menschen zuhören oder mit ihnen interagieren. Dazu zählen zum Beispiel:
Unsere Erwartungen an einen Vortrag oder unsere Gesprächspartner*innen.
Die Absicht, die wir damit verfolgen, einen Vortrag anzuhören oder an einem Gespräch teilzunehmen.
Die Gefühle, die wir in bestimmten Situationen oder bestimmten Menschen gegenüber entwickeln oder die bei uns beispielsweise durch gewisse Worte und Gesten ausgelöst werden.
Julian Treasure hat das Wirken dieser vielfältigen Filter in ein einprägsames Bild gefasst: [1] Unsere Wahrnehmungsfilter, schreibt er, bewirken eine selektive Hörerfahrung, als säßen wir in einem Bunker, der nur eine kleine Luke zur Außenwelt hat. Durch diese Luke gelangen nur bestimmte Dinge herein, vieles dagegen prallt von dem Bunker ab. Die Folge: Wir hören nie alles, sondern nur einen kleinen Teil dessen, was um uns herum zu hören ist – und meinen trotzdem, was wir hören, sei die ganze Wirklichkeit.
Was für das Hören gilt, hat gleichermaßen für alle anderen Sinneswahrnehmungen Gültigkeit. Auch über sie nehmen wir aufgrund unserer unbewussten Filter nur einen Bruchteil dessen wahr, was wir wahrnehmen könnten und andere vielleicht ihrerseits wahrnehmen.
Da unsere Wahrnehmungen grundsätzlich individuell sind, können wir zu keinem Zeitpunkt wissen, was andere wahrnehmen oder meinen. Wir können also auch keine Aussagen darüber treffen. Statements wie „Du verstehst das nicht“, „Du kannst das nicht“, kurz: Die klassischen sogenannten „Du-Botschaften“ verbieten sich daher grundsätzlich. Sie sind buchstäblich übergriffig und unqualifiziert. Alle, die so sprechen, machen damit nur deutlich, dass sie Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse nicht durchdacht und verstanden haben, nicht an ihnen interessiert oder von ihnen überfordert sind. Damit schüren sie nicht nur Aggressionen und Trauer beim Gegenüber, sondern machen sich mit ihrer egozentrischen Haltung auch schwach und angreifbar.
Wir können verlässlich nur über unsere eigenen Wahrnehmungen sprechen, in „Ich-Botschaften“. Das kleine kommunikative Wunder dabei: Sie eröffnen einen Austausch. Denn wer wird nicht versuchen, die eigene Position darzulegen, wenn das Gegenüber erklärt: „Nach meinem Dafürhalten verstehst du das nicht“, „Was bei mir angekommen ist, ist…“, „Ich habe den Eindruck, du kannst das (noch) nicht“?
Es gibt keine zwei Menschen, die dasselbe hören. Wir sollten uns immer bewusst machen, dass das, was wir hören (und überhaupt wahrnehmen), von uns unbewusst gefiltert ist, also die Filter durchlaufen hat, die wir im Laufe unseres Lebens verpasst bekommen oder erworben haben. Das, was sie zu uns durchdringen lassen, bildet die Grundlage für eine gute Kommunikation.
[1] Julian Treasure: How to be Heard. Secrets for Powerful Speaking and Listening. Coral Gables 2017, S. 111.