Seit den späten 1990er Jahren, als das Internet mit zunehmender Entwicklung immer breiter genutzt wurde, findet das Phänomen Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Medien große Beachtung. [1] Viele Theorien wurden seither entwickelt: Von einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ im Netz war die Rede, die die Realwirtschaft ersetzen werde, [2] von der „Ressource Aufmerksamkeit“ [3], dem „neuen Rohstoff der Gesellschaft“ [4]. Aufmerksamkeit wurde als „Währung“ von TV und Radio ausgemacht, [5] wo über das Erheben von Einschaltquoten Werbeplätze nach Aufmerksamkeitswerten der Zuschauer eingepreist werden. Ganz zu schweigen von dem Werben um die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer in den Sozialen Medien.
Doch was hat es auf sich, mit der Aufmerksamkeit? Wie kann Rhetorik dabei helfen, sie bei unseren Mitmenschen zu erregen, aufrechtzuerhalten und zu lenken? – Dafür zunächst ein Blick auf die Grundlinien dessen, was die Kommunikationsforschung zu ihr bereitstellt.
„Everyone knows what attention is“, schreibt der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James 1890 [6] und führt aus: „Sie ist das Besitzergreifen des klaren und lebendigen Bewusstseins von einem Objekt aus einer ganzen Reihe sich scheinbar gleichzeitig darbietender Objekte oder Gedankengänge.“ Sie besteht für James in einem Fokussieren und Konzentrieren des Bewusstseins und hat ihren Gegenpart in dem, was wir „Zerstreutheit“ nennen.
Doch auch wenn, wie James behauptet, jeder in diesem Sinn über Aufmerksamkeit Bescheid zu wissen meint, ist bis heute nicht vollständig geklärt, wie sie eigentlich zustande kommt. [7] Immerhin gibt es dazu ein paar wichtige Anhaltspunkte, die man sich merken sollte.
Grundlegend für jede Auseinandersetzung mit Aufmerksamkeit ist die Erkenntnis, dass unsere Fähigkeit zur kognitiven Verarbeitung von Informationen, die wir durch unsere Sinne aufnehmen, begrenzt ist. Daher greifen wir aus all dem, was wir im täglichen Leben mit unseren Sinnen wahrnehmen, ganz selbstverständlich nur das heraus, was für uns aktuell wichtig ist: Wir haben zwar ein breites Gesichtsfeld bis in die Augenwinkel, aber wir schenken dem meisten, was wir sehen, keine Beachtung. Mit anderen Worten: Wir filtern und fokussieren.
Filtern ist auch eine der wichtigen Funktionsweisen der Aufmerksamkeit. Sie reagiert auf bestimmte Stimuli und lässt andere Reize in den Hintergrund treten. Das bekannteste Beispiel dafür ist der so genannte Coctail-Party-Effekt, den der britische Kognitionswissenschaftler Edward Colin Cherry in den 1950er Jahren erforscht hat: [8] Trotz einer Vielzahl von Umgebungsgeräuschen – Musik, Rufe, Lachen, Gespräche – gelingt es dem Gehör, vieles davon auszusondern und die Aufmerksamkeit auf bestimmte akustische Strukturen zu richten. Diese werden dann im Gehirn kognitiv verarbeitet. Ausschlaggebend für das Herausfiltern bestimmter Reize sind Reizstärke und Reizrelevanz. Was für uns von Bedeutung ist, hängt von einer Vielzahl ganz individueller Faktoren ab, unter anderem von unserer Sozialisation, unserer Ausbildung, unseren Vorlieben.
Daneben gibt es die Aufmerksamkeit als Orientierungsreflex. Sie war und ist in der Evolution des Menschen eine lebenswichtige Funktion, denn sie dient dazu, unerwartete Stimuli zu lokalisieren, um auf sie reagieren zu können. Durch sie gelingt es, mögliche Gefahren abzuschätzen und gegebenenfalls nach Fluchtgelegenheiten zu suchen. [9]
Fokussieren ist die Kernfunktion der Aufmerksamkeit. Es steht für das Verstärken der Intensität von Wahrnehmungsprozessen: Sehen wird zu Hinsehen, Hören zu Hinhören, Wahrnehmen zu Beobachten. Auslöser sind wie beim Filterprozess bestimmte Stimuli, deren Wirkung auf uns von sehr individuellen Faktoren abhängt.
Mit den Fragen, wie Vortragende Aufmerksamkeit erregen, sie in ihrer Zuhörerschaft aufrecht erhalten und in ihrem Sinne lenken können, haben sich schon die Redelehrer der Antike beschäftigt. Vor allem Aristoteles und Quintilian haben sich in ihren Werken dem Thema Aufmerksamkeit zugewandt. [10] Als entscheidendes Moment gilt seither dem Auftritt der oder des Vortragenden noch vor dem Einstieg in die Rede. [11] Die erste Wirkung auf das Auditorium hängt von nonverbalen Faktoren wie Haltung und Habitus ab.
Im Vortrag selbst kommen dann strategische Entscheidungen zum Tragen, die an der Zusammensetzung des Auditoriums zu orientieren sind. Ziel ist es, zur Erregung von Aufmerksamkeit Stimuli zu setzen, die von den Zuhörenden nicht herausgefiltert werden. Das geeignetste Mittel dazu ist es, die Erwartung der Zuhörer positiv zu brechen, also zu überraschen. Weitere Optionen bestehen darin, die Relevanz des Gegenstands oder Themas für das Auditorium fassbar zu machen oder die Zuhörer durch etwas Neues (oder eine neue Sicht auf Altes) zu packen. Es sind diese Strategien aus der klassischen Rhetorik, die bis heute im Marketing Verwendung finden.
Das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit setzt an deren Fokussierungsfunktion an. Das wirksamste Mittel, um beim Publikum einen Bindungseffekt an einen Vortrag oder eine Präsentation zu erreichen, ist es, die persönliche Relevanz für die Zuhörer greifbar zu machen. „Tua res agitur“ heißt es dazu in der römischen Antike: „Es geht um Dinge, die Dich persönlich betreffen!“. [12] Daneben sind weitere Aufmerksamkeits-Stimuli zu setzen, wofür es sich anbietet, Neugierde zu wecken, Erwartungen aufzubauen, Sachverhalte durch lebensnahe Beispiele zu veranschaulichen und positive Gefühle zu wecken. Zahlreiche Ansätze dazu sind von der Rhetorik in die Pädagogik und Didaktik eingegangen. [13]
Bei der Aufmerksamkeitslenkung stimulieren Vortragende ebenfalls die Fokussierungsfunktion der Zuhörerschaft. Sie können dabei auf ein vielfältiges Arsenal von nonverbalen und verbalen Kunstgriffen zurückgreifen: Auf stimmliche Modulation etwa die Variation der Lautstärke oder Sprechgeschwindigkeit, den Einsatz von Pausen, auf unterstützende Gesten. Hilfreich sind auch Apelle ans Publikum, rhetorische Fragen oder schlicht Gliederungshinweise wie „Ich komme zum Ende“.
Aufmerksamkeit kann wie folgt definiert werden: Sie ist eine durch sensorische oder mentale Stimuli ausgelöste Fokussierung auf einen Teil der Umwelt, durch die andere Umweltreize vernachlässigt oder ausgeblendet werden. Das Wissen um die Funktionsweisen von Aufmerksamkeit bietet uns die Möglichkeit, Kommunikationsprozesse für uns und unsere Adressaten zu optimieren.
[1] Aleida Assmann: Einleitung, in: Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII. Herausgegeben von Aleida und Jan Assmann. München 2001, S. 11-23, hier: S. 11. – [2] Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. München 1998. – [3] Ressource Aufmerksamkeit. Ästhetik in der Informationsgesellschaft. Kunstforum International, Bd. 148 (1999/2000). – [4] Siegfried J. Schmidt: Aufmerksamkeit: die Währung der Medien, in: Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII. Herausgegeben von Aleida und Jan Assmann. München 2001, S.183-196 mit umfangreicher einschlägiger Literatur der Zeit. – [5] Ebd., S. 184. – [6] William James: The Principles of Psychology. New York 1890, S. 403f. – [7] Zum Überblick über die Forschung: Daniel Seebert: Rhetorik und Aufmerksamkeit – der unsichtbare Orator. Berlin 2017, S. 26ff. – [8] Edward Colin Cherry: Some Experiments on the Recognition of Speech, with one and with two Ears. Journal of the Acustical Society of America, 25 (1953), S. 975–979; dazu: Adelbert W. Bronkhorst: The Cocktail Party Phenomenon: A Review of Research on Speech Intelligibility in Multiple-Talker Conditions, in: Acta Acustica united with Acustica 86 (2000), S. 117-128. – [9] Marc H. Ashcraft: Cognition. Fourth Edition. Upper Saddle River/New Jersey 2006, S. 128. – [10] Überblick bei: Burkhard Wessel: Attemtum parare, facere, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von gert Ueding. Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1161-1163. – [11] Quintilian: Institutio Oratoria XI.3,72. – [12] Horaz: Epistula I.18,84; vergleichbar dazu in der Rhetorik: Auctor ad Herennium I.4,7.Quintilian: Institutio oratoria IV.1,33f. – [13] Dazu der Überblick über die Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert: Sabine Reh, Katrhin Berdelmann, Jörg Dinkelaker (Hrsg.): Aufmerksamkeit. Geschichte-Theroie-Empirie. Wiesbaden 2015.
Aleida Assmann, Jan Assmann (Hrsg.): Aufmerksamkeiten. München 2001 (= Archäologie der literarischen Kommunikation, VII). – Sabine Reh, Katrhin Berdelmann, Jörg Dinkelaker (Hrsg.): Aufmerksamkeit. Geschichte-Theroie-Empirie. Wiesbaden 2015. – Siegfried J. Schmidt: Aufmerksamkeit: die Währung der Medien, in: Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII. Herausgegeben von Aleida und Jan Assmann. München 2001, S.183-196. – Daniel Seebert: Rhetorik und Aufmerksamkeit – der unsichtbare Orator. Berlin 2017 (= neue rhetorik, 26). – Daniel Seebert: Aufmerksamkeit. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Bd. 10: Nachträge. Tübingen 2012, Sp. 59-69. – Burkhard Wessel: Attemtum parare, facere, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von gert Ueding. Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1161-1163.