Bereits die großen Redelehrer der Antike wussten aus Erfahrung: Jeder Mensch bringt eigene Voraussetzungen für das Vortragen von Reden mit. Menschen verfügen in sehr unterschiedlichem Maße über die dafür wichtigen ‚Gaben der Natur‘. [1] Zu diesen zählen:
Ein angenehmer, kräftiger Klang der Stimme.
Eine starke Lunge.
Körperkraft für die Ausdauer bei längeren Vorträgen.
Eine gute körperliche Erscheinung und Präsenz bei öffentlichen Auftritten.
Ein gutes Gedächtnis, um die Sachverhalte, Argumente und vor allem den Aufbau der Rede während des Vortrags stets präsent zu haben.
Geistige Beweglichkeit, um auf Zwischenrufe oder Einwürfe während der Rede reagieren zu können.
Diese ‚Naturanlagen‘ können weiter ausgebildet und auf diese Weise perfektioniert werden.
Zu ihnen kommen Kenntnisse im Erarbeiten und Vortragen von Reden hinzu, die grundsätzlich zu erlernen sind. Sie sind auch unter der Bezeichnung „fünf Aufgaben des Redners“ (in der lateinischen Fachterminologie: officia oratoris) bekannt [2]:
1. Die Materialsuche und –sammlung für die Rede (inventio).
2. Die Gliederung des Vortrags (dispositio).
3. Das Ausformulieren der Rede (elocutio).
4. Das Einprägen der Rede, um sie möglichst frei halten zu können (memoria).
5. Der Vortrag der Rede (actio).
Auch wenn Menschen je nach Begabung für einen packenden Vortrag mehr oder weniger im Reden ausgebildet werden müssen, sollte davon möglichst niemand etwas merken. Die Rede soll vollkommen natürlich erscheinen. [3]
Die Meister der Redekunst in der Antike haben dafür das Bild von der ‚zweiten Natur‘ geprägt. [4] Es kann uns auch heute noch veranschaulichen, wonach wir streben sollten. Die Lehrer von damals stellten sich vor, dass im Unterricht durch Theorie und Praxis die natürliche Anlage der Schüler zum Reden weiterentwickelt und ihr dadurch etwas hinzugefügt wird. [5] Durch Lernen und Übung bilden die Schüler eine feste Gewohnheit aus, die ihnen mit der Zeit ‚in Fleisch und Blut‘ übergeht. Sie wird ihnen zur ‚zweiten Natur‘. Da jeder Mensch andere persönliche Anlagen hat, findet diese ‚zweite Natur‘ bei jeder oder jedem Vortragenden eine ganz individuelle Ausprägung. [6]
Wenn wir uns bei vorbildlichen Rednerinnen und Rednern die Frage stellen, ob sie Naturtalente sind oder eine hervorragende Ausbildung genossen haben, sehen wir uns brillanten Könnern gegenüber. Sie lassen nicht mehr erkennen, wo ihre natürliche Disposition endet und wo das Erlernte anfängt. Das ist das höchste Ziel der Redekunst.
[1] Dazu besonders Marcus Tullius Cicero (106–48 v.Chr.): De oratore (Über den Redner) I.114: Klang der Stimme, kräftige Lunge, Körperkraft, äußere Erscheinung; und I.113: Geistige Beweglichkeit, Gedächtnis. – [2] Die officia oratoris sind in dieser Bedeutung eine spätantike Prägung. Sie gehen auf Gaius Chirius Fortunatianus (4./5: Jh. n.Chr;) und Sulpicius Victor (4. Jh. n.Chr.) zurück: Fortunatianus: Artis rhetoricae libri III, hier: I.1, in: Rhetores latini minores, hg. v. C. Halm, Leipzig 1863 [Nachdruck: Frankfurt am Main 1964]; S. 79; Sulpicius Victor: Institutiones oratoriae, ebd., S. 315, 6. – [3] Marcus Fabius Quintilianus (ca. 35–96 n.Chr.): Institutio oratoria (Ausbildung des Redners), II.17 und II.17, 5. – [4] Dazu: Jan Hendrik Waszink: Die Vorstellungen von der ‚Ausdehnung der Natur‘ in der griechisch-römischen Antike und im frühen Christentum, in: Festschrift B. Kötting, Jahrbuch Antike und Christentum, Ergänzungs-Band 8 (1980), S. 30-38. – [5] Im Ansatz bereits bei dem Philosophen Demokrit (ca. 460–370 v.Chr.): „Natur und Erziehung sind etwas Ähnliches. Denn die Erziehung formt zwar den Menschen um, aber durch diese Umformung schafft sie Natur.“, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, herausgegeben von Hermann Diels, Band II, Berlin 1922, 68 B 33. Später bei dem Redner Isokrates (436–338 v. Chr.); dazu Isokrates: Gegen die Sophisten, 14-18; und ders.: Über den Vermögenstausch, 187, 189-191. – [6] Dazu Cicero: De oratore (Über den Redner) III.35.
Florian Neumann: „Natura“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 6. Tübingen 2003, Sp. 135-139 und: „Natura-ars-Dialektik“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 6. Tübingen 2003, Sp. 139-171. Hedwig Pompe: „Natürlichkeitsideal“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 6. Tübingen 2003, Sp. 183-203.