‚Hören mit dem Dritten Ohr‘ ist ein einprägsamer bildhafter Ausdruck für besonders aufmerksames, informiertes Zuhören. Das ‚Dritte Ohr‘ symbolisiert dabei die Gesamtheit von Intuition und erworbenen Kenntnissen, die eine Person beim Zuhören, für sich und auch andere nutzbringend einsetzen kann. Letztlich kann die Fähigkeit auf alle erdenklichen Gebiete eingesetzt werden, wie die folgenden Beispiele zeigen. Wir tun gut daran, unser ‚drittes Ohr‘ zu nutzen.
Die Formulierung ‚Drittes Ohr‘ hat der klassische Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche geprägt. In der für ihn typischen plastischen Ausdrucksweise wendet er sich in seiner 1886 veröffentlichten Schrift Jenseits von Gut und Böse gegen eine bestimmte Art von Autoren. Sie bereiteten, schreibt er, all denjenigen Qualen, die das „dritte Ohr“ haben, also in seinem Verständnis über ein Gefühl für sprachlicher Eleganz verfügen. Wörtlich: „Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für den, der das dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz welcher bei Deutschen ein ‚Buch‘ genannt wird.“ [1] Nietzsche war ein begeisterter Leser französischer Autoren, die für sein ‚drittes Ohr‘ weit angenehmer waren. Bei Nietzsche steht „drittes Ohr“ also für Stilempfinden aufgrund von Wissen um die reichen, gefälligen Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache.
Theodor Reick, einer der ersten Schüler Siegmund Freuds in der Psychoanalyse, hat den Ausdruck ‚Drittes Ohr‘ von Nietzsche übernommen, aber inhaltlich neu gefüllt. Für ihn steht das ‚Dritte Ohr‘ für ein besonderes Sensorium, über das Psychoanalytiker:innen verfügen sollten. Dieses ‚Dritte Ohr‘ sollte es ihnen ermöglichen, mit dem Unterbewusstsein fein zu hören. In seinen Worten: „Eine der Eigenarten dieses dritten Ohrs ist, dass es auf zwei Kanälen hört. Es kann erfassen, was andere Leute nicht sagen, sondern nur fühlen und denken; es kann aber auch nach innen gerichtet werden. Es kann Stimmen aus dem Innern hören, die sonst nicht hörbar sind, weil sie vom Lärm unserer bewussten Gedankenprozesse übertönt werden.“ [2]
Joachim Ernst Behrendt hat im musikalischen Kontext vom ‚Dritten Ohr‘ gesprochen. [3] Bei ihm ist es Ausdruck für ein Wissen um musikalische Vorgänge, das es allen Hörenden ermöglicht, das Gehörte persönlich gewinnbringend zu verarbeiten. Das gilt zum Beispiel für die Fähigkeit, Klänge nicht nur im überkommenen Harmoniesystem der Lebenswelt zu verorten, in dem die Hörerinnen und Hörer aufgewachsen sind, sondern ihm auch eine Bedeutung zuweisen zu können (z.B. fröhlich oder traurig).
In der musikalischen Praxis zeigt sich dieses ‚Dritte Ohr‘ zum Beispiel in dem Empfinden für bestimmte Musikstile wie etwa das schwer fassbare feeling von Eric Clapton für den Blues. Oder, um ein Beispiel aus einer anderen Musiktradition anzuführen, im Gefühl und Verständnis indischer Musiker nicht nur für die gespielten Töne in ihrer Musik, sondern auch für die oft als ebenso wichtig angesehenen nichtgespielten (nur mitgedachten) Töne. Auch bei Behrendt steht also das ‚Dritte Ohr‘ für intuitives, wissendes Hören. [4]
In allen beschriebenen Fällen bezeichnet das ‚Dritte Ohr‘ ein besonderes Vermögen, das in uns Menschen angelegt ist und weiter ausgebildet werden kann. Es ist eine entwickelbare, gefühls- und wissensbasierte Aufnahmefähigkeit für die feinen (Zwischen-)Töne, die in allem wahrnehmbar sind, mit dem wir konfrontiert werden, ob wir lesen (wie bei Nietzsche), Menschen zuhören (wie bei Theodor Reick) oder Musik aufnehmen (wie bei Joachim Ernst Behrendt). Die Aufforderung mit dem ‚Dritten Ohr‘ zu hören, ist als ein Appell an uns zu verstehen, uns unseres Empfindens und Wissens beim Zuhören bewusst zu sein und damit der Kommunikation mit unseren Mitmenschen mehr Qualität zu verleihen – mit einem Gewinn für alle Seiten.
Für einen gelungen Austausch mit anderen ist es dabei zusätzlich wichtig, dass wir uns immer aufs Neue vergewissern, ob wir unser Gegenüber richtig verstanden haben. Denn so gut unsere Intuition auch sein mag und so viel wir auch wissen mögen, es bedarf immer wieder des Abgleichs mit der Intuition und dem Wissen unserer Mitmenschen.
[1] Friedrich Nitzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel von einer Philosophie der Zukunft, Achtes Hauptstück (Völker und Vaterländer), 246, S. 189. – [2] Theodor Reick: Hören mit dem Dritten Ohr. Die Innere Erfahrung eines Psychoanalytikers, Aus dem Amerikanischen von Gisela Schad. Zürich 1979, S. 168f. – [3] Joachim Ernst Behrendt: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt. Battweiler 2008, S. 224f. – [4] Das Beispiel der indischen Musik ebd., S. 227ff.
Joachim Ernst Behrendt: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt. Battweiler 2008. – Kate Murphy: You’re Not Listening. What You’re Missing and Why it Matters. New York 2020. – Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari Bd. 5. 3. Auflage. München 1993, S. 9-243. – Theodor Reick: Hören mit dem Dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers. Aus dem Amerkansichen von Gisela Schad. Zürich 1979 [Originalausgabe: Listening with the Third Ear. New York 1948].
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