Zuhören hat für uns von allen kommunikativen Akten den höchsten Stellenwert. Seit rund 100 Jahren führen Forscher Untersuchungen durch, die immer wieder eines belegen: 70 bis 80 Prozent unser Zeit im Wachzustand verbringen wir mit Kommunikation. Davon entfallen rund 9 Prozent auf Schreiben, rund 16 Prozent auf Lesen, rund 30 Prozent auf Sprechen. Die überwiegenden ca. 45 Prozent verbringen wir mit Zuhören. Die Werte schwanken je nach Zeit und untersuchter Personengruppe, aber eines steht fest: Selbst der Einsatz der elektronischen Medien hat an der beherrschenden Stellung des Zuhörens nichts geändert. [1] Mit der Zunahme von Sprachnachrichten hat sie sich eher noch verstärkt.
Angesichts der Dominanz des Zuhörens in unserem Alltag ist es erstaunlich, dass wir darin kaum ausgebildet werden. Unsere Bezugspersonen bringen uns Sprechen bei. Lesen und Schreiben lernen wir in der Schule. Zuhören aber bleibt in unserer Heranbildung eine Leerstelle. Das ist nicht neu. Und es gibt einen Grund dafür: Kommunikation wird traditionell vom Redenden (oder Schreibenden) her gedacht.
1957 veröffentlicht Ralph P. Nichols sein wegweisendes Buch über das Zuhören: Are You Listening? Er vermutet damals, dass er damit die erste eingehende Studie über das Zuhören überhaupt vorlegt. Das stimmt: Selbst die größten Gelehrten der Antike haben sich zwar eingehend mit der Kunst der Rede befasst, den Aktivitäten der Zuhörer aber nur wenig Beachtung geschenkt. Das ist überraschend, denn letztlich gilt die Zustimmung des Auditoriums als Maßstab für den Erfolg und überhaupt den Sinn der Redekunst. [2]
Aristoteles, Cicero und ihresgleichen haben einen fokussierten Blick auf das Verhältnis zwischen Redner und Zuhörer. Sie gehen in ihren einschlägigen Schriften immer vom Redner aus. Für sie hat ein Redner seine Vorträge auf seine Hörerschaft zuzuschneiden [3] und sich beim Vortrag an deren Reaktionen zu orientieren [4]. Für sie ist es Aufgabe des Redners, sich um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu kümmern. Was die Hörerschaft ihrerseits tun soll, außer sich vom Redner mit seinem Vortrag (passiv!) fesseln zu lassen, bleibt im Dunkeln.
Der aktive Zuhörer wird erst im 20. Jahrhundert entdeckt. Als Grund dafür darf die wachsende Präsenz der audiovisuellen Massenmedien – Radio und Fernsehen – gelten. Es sind vor allem US-amerikanische Pädagogen, die seit den 1940er Jahren darauf hinarbeiten, Kinder (und Erwachsene) im Umgang mit diesen Medien zu schulen. Ihr Ziel sind kritische Zuhörer*innen und Zuschauer*innen. Die von ihnen geforderte Medienkompetenz steht für einen proaktiven Umgang mit den Inhalten und Angeboten von Radio, TV – und heute auch des Internets. [5]
Wenn es um die Beurteilung von Medieninhalten geht, kommt wieder die Rhetorik ins Spiel. Nur sind Fokus und Perspektive anders als bei Aristoteles, Cicero & Co. zu wählen. Die Rhetorik ist von den Zuhörern aus in den Blick zu nehmen.
Mit anderen Worten: Traditionell stellen Redelehrer mit der Rhetorik ein System zur Verfügung, mit dem Vorträge, Artikel und alle Formen von Medienbeiträgen ausgearbeitet werden können. Die Rhetorik hilft den Medienschaffenden bei ihrer Arbeit. Aber das Regelsystem kann – umgekehrt – auch zur Analyse von Vorträgen, Essays und Medienbeiträgen genutzt werden. Darum wird es mir in den nächsten Wochen gehen. Ich schreibe über „rhetoric’s other“ – das Gegenstück zur Redekunst: die Kunst des Zuhörens. Bleiben Sie dabei!
[1] Zusammenstellung und Bewertung der Studien seit 1926 bei: Laura A. Janusik, Andrew D. Wolvin: 24 Hours in a Day: a Listening Update to the Time Studies, in: The International Journal of Listening 23 (2009), S. 104-120. – [2] Für alle, die es genau wissen wollen: Cicero: Tusculanae disputationes 2,3; Auctor ad Herennium, 1.2. – [3] Aristoteles: Auctor ad Alexandrum, 32,3 [1433b20]; 35,19 [1440a30]; 37,3 [1441b35-1442a2]; ders.: Rhetorik, III.1,6 [1404a]; Cicero: De oratore, 3,210; ders.: Orator 21(71). – [4] Isokrates: Oratio 7 (Areopagiticus),63; Oratio 10 (Helena), 30; 12 (Panathenaicus), 135; Oratio 15 (Antídosis), 12; Aristoteles: Rhetorik, III.1,5 (1404a); Cicero: Brutus, 193, Partitiones oratoriae, 15; Quintilian: Institutio oratoria, XII.10,50. – [5] Zum Überblick über die (ältere) Forschung: Sam Duker: Listening Bibliography, Metchuan, N.J. 1968. Weitere Titel siehe unter „Literatur“.
Ralph P. Nichols, Leonard A. Stevens: Are You Listening?, New York/Toronto/London 1957. Mortimer Adler: How to Speak, How to Listen, New York 1983. Sylvia Usener: Hörer, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1561-1570. Laura A. Janusik, Andrew D. Wolvin: 24 Hours in a Day: a Listening Update to the Time Studies, in: The International Journal of Listening 23 (2009), S. 104-120. Julian Treasure: How to be Heard. Secrets for Powerful Speaking and Listening, Coral Gables 2017.