Die Inaugural Address von Joe Biden kann in 9 Abschnitte [1] gegliedert werden:
(1) Biden beginnt seine Rede mit einem klaren Statement: „This is America’s day. This is democracy’s day. A day of history and hope, of renewal and resolve.“ Die Erneuerung und Entschlossenheit, die er apostrophiert, sind vor dem Hintergrund der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit oberste Gebote: dem Sturm auf das Kapitol zwei Wochen zuvor. Die Demokratie hat, wie er sagt, vorerst gesiegt, aber sie ist weiter zu verteidigen. Dafür bedarfe es überparteilichen Handelns und der Mithilfe der gesamten Bevölkerung. Auch darüber hinaus, gibt es viel zu tun. Denn:
(2) Die Lage in den USA und in der Welt ist angespannt: durch den Verlust von Millionen Arbeitsplätzen, durch Rassenunruhen, durch den täglichen Überlebenskampf mit dem Virus, durch politischen Extremismus und Terrorismus.
(3) Eine Grundvoraussetzung für die Lösung dieser Probleme erkennt Biden in der Einheit (unity) der Nation, die wieder herzustellen ist. Im Sinne Abraham Lincolns ist Biden bereit, dafür seine ganze Kraft und Energie, seine Seele („my whole soul“) zu geben. Mit Hilfe aller Mitbürgerinnen und Mitbürger ist er überzeugt, die USA wieder zur führenden Kraft für das Gute in der Welt zu machen. Auch wenn das vielen als eine verrückte Idee („foolish fantasy“) erscheine, gelte es für dieses American ideal zu kämpfen, auch wenn der Kampf ewig währe und der Sieg niemals sicher sei. Aber die USA haben, wie er betont, in Krisenzeiten immer wieder gezeigt, dass es möglich ist. Es gibt drei Faktoren, auf die die Amerikaner bauen können: „History, faith and reason show the way. The way of unity.“ Auf sie wird er im Folgenden genauer eingehen.
(4) Biden hat konkrete Vorstellungen, wie die Einheit herzustellen ist: „We can see each other not as adversaries but as neighbours. We can treat each other with dignity and respect. We can join forces, stop the shouting and lower the temperature.“
(5) Dass dies möglich ist, zeigt ein Blick in die Geschichte der Vereinigten Staaten, die jedem in Washington vor Augen steht: Das Kapitol als Symbol der Überwindung des Bürgerkriegs. Die Mall als Ort der Ansprache von Martin Luther King. Die Stufen des Kapitols, auf dem Frauen für ihr Wahlrecht kämpften und auf denen nun, 108 Jahre später, Kamala Harris als Vizepräsidentin vereidigt wurde. Die Gedenkstätte des Friedhofs von Arington für die Helden der Nation. Und der Ort vor dem Kapitol, wo zwei Wochen zuvor Feinde der Demokratie den Aufstand probten – und unterlagen.
(6) Die Vernunft, erklärt Biden weiter, lasse trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die in einer Demokratie selbstverständlich seien, die wahren US-amerikanischen Werte erkennen: die „gemeinsamen Herzensdinge“, wie sie der Heilige Augustinus als einigendes Band eines Volkes bezeichnet habe. Im Fall der USA sind dies in Bidens Worten: „Opportunity, security, liberty, dignity, respect, honour, and yes, the truth.“ Vor allem Lügen lehnt er ab – besonders „lies told for power and for profit“. Er appelliert an die Ehrlichkeit und Verantwortung der Amerikanerinnen und Amerikaner und ihrer Führungskräfte, ruft sie auf, die Verfassung zu ehren und die Nation zu verteidigen. Er zeigt Verständnis für die Sorgen seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger, die aber nur zu bewältigen seien, wenn die Gegensätze zwischen ihnen überwunden würden und sie bereit seien, sich gegenseitig zu unterstützen.
(7) Oft, sagt Biden, helfe auch der Glaube und mit ihm die Bibel, etwa wenn es gelte, die Corona-Pandemie durchzustehen und zu überwinden. Dieser Gaube gebe den USA die Kraft, wieder zum führenden Faktor in der Welt zu werden, zu einer besonderen Macht: „And we’ll lead not merely by the example of our power but the power of our example.“ Und aus seinem Glauben heraus ruft er seine Mitbürger schließlich zum stillen Gebet auf – für die Verstorbenen und das Land.
(8) Biden weiß um die Herausforderungen, vor denen die Vereinigten Staaten und die Welt stehen: „We face an attack on our democracy, and on truth, a raging virus, a stinging inequity, systemic racism, a climate in crisis, America’s role in the world.“ Und er konstatiert, dass ein jedes dieser Themen schon für sich genüge, um alle zutiefst zu fordern. Aber es gebe keine Alternative: Alle gemeinsam müssten sich den notwendigen Aufgaben stellen.
(9) Biden schließt folglich mit einem Call to Action, in dem er seine Mitbürgerinnen und Mitbürger dazu aufruft, an der großen amerikanischen Geschichte mitzuschreiben: „We’ll write the next great chapter in the history of the United States of America. The American story.“ Mit der Arbeit und den Gebeten aller und mit seinem eigenen, persönlichen Einsatz für die Verfassung, die Demokratie und die Verteidigung der USA werde es gelingen, diese Geschichte der Vereinigten Staaten zu einem Erfolg zu führen und die Nation wieder zu einem leuchtenden Beispiel für die Welt („a beacon to the world“) zu machen.
Der US-amerikanische Politologe David F. Ericson hat elf Themen ausgemacht, die in den Inaugural Addresses der US-amerikanischen Präsidenten immer wiederkehren. [2] Die Art und Weise, wie die einzelnen Amtsträger diese Inaugural Themes behandelten, schreibt Ericson, reflektiere die politische Kultur – der Präsidenten selbst und ihrer Zeit. Auf jeden Fall bieten sie einen guten Zugang zu ihrer Gedankenwelt und ein nützliches Mittel zur Kurzanalyse ihrer Inaugural Address.
Von den elf Inaugural Themes (im Folgenden mit Fettdruck hervorgehoben) lässt Joe Biden nur eines gänzlich unberührt. Da er seinen Fokus auf die Einigung der Nation richtet, schenkt er dem Themenkomplex Federalism (Föderalismus) keine Beachtung.
Interessant ist vor allem, wie Joe Biden mit dem Thema Political continuity (politische Kontinuität) umgeht. Angesichts der grundsätzlich anders gearteten Regierungsweise seines Vorgängers belässt er es hier bei einem kurzen Hinweis zu Beginn seiner Rede auf den „peaceful transfer of power as we have for more than two centuries“. Diese Tradition will er fortschreiben.
Angesichts des jüngsten Angriffs auf das Kapitol ist ihm dies sehr wichtig und er betont mehrmals in seiner Rede die Rolle, die den Präsidenten seit je her zuwächst und die er in vollem Maße auszufüllen bereit ist: The president’s role as defender of the Constitution and union (die Rolle des Präsidenten als Verteidiger der Verfassung und der nationalen Einheit). Alle Führer der Nation, sagt Biden, seien darauf verpflichtet, „to honour our Consitution“. Und er ist qua Amt im Besonderen dazu aufgerufen. Kurz vor Ende seiner Rede erneuert er dieses Versprechen, das er im Amtseid geleistet hat: „Before God and all of you, I give you my word. I will always level with you. I will defend the Constitution, I’ll defend our democracy.“
Die Aufgabe, die Demokratie zu verteidigen, kann nur gelingen, wenn alle zusammenarbeiten – über Parteigrenzen hinweg. Die Unparteilichkeit und Überparteilichkeit – Nonpartisanship – ist daher auch das erste Thema, das er in seiner Rede anspricht. Es geht, wie er betont, an diesem Tag nicht um den Sieg des Kandidaten einer Partei, sondern um etwas anderes: „Today we celebrate the triumph not of a candidate but of a cause, a cause of democracy.“ Der Einsatz für die Demokratie ist überparteilich und er weiß sich darin in guter Gesellschaft: Biden dankt ausdrücklich seinen Amtsvorgängern, seinen „predecessors of both parties“. Dabei würdigt er besonders die Leistungen von Ex-Präsident Jimmy Carter, und das mit Bedacht: Bidens Mitteilung, dass Carter aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Inauguration teilnehmen könne, aber am Vorabend noch mit ihm telefoniert habe, lässt das Schweigen über Bidens direkten Amtsvorgänger effektvoll hervortreten. Dieser war bekanntlich bis zuletzt kein Anhänger von überparteilichem Handeln und hatte die Teilnahme an der Inauguration Bidens abgelehnt.
Biden setzt dagegen ganz auf National unity (nationale Einheit). Dass ihm dieses Thema besonders am Herzen liegt, hatte er schon im Vorfeld vielfach hervorgehoben. Er widmet ihm einen langen Passus seiner Rede (oben Abschnitt 3). Grundlage für die Einheit, erklärt er, sei das Verwirklichen des „American ideal“, der Gleichheit aller Menschen. Doch die Geschichte zeige, dass dies nur schwer zu erreichen sei: „Our history has been a constant struggle between the American ideal, that we are all created equal, and the harsh ugly reality that racism, nativism and fear have torn us apart.“
Nationale Einheit kann nicht verordnet werden, sondern kann nur gelingen, wenn alle US-Amerikanerinnen und –Amerikaner mithelfen, sie zu verwirklichen. An den Popular support (Unterstützung durch das Volk) appelliert Biden daher immer wieder in seiner Rede: er spricht von „all of us“, von „we the people“, von „every American“, der/die dazu aufgerufen sei, ihm dabei zu helfen, die politische Einheit wieder herzustellen („to join me in this cause“). – Entsprechend auch seine Aufforderung: „Let’s start afresh, all of us. Let’s begin…“.
Dabei ist Civic virtue (bürgerschaftliches Engagement) gefragt. Wie Biden sagt: „My fellow Americans, in the work ahead of us we’re going to need each other. We need all our strength to persevere through this dark winter.“ Nur gemeinsam, mit dem Einsatz aller für das Land, erklärt er, könnten die Vereinigten Staaten wieder erstarken: „Some days you need a hand. There are other days when we’re called to lend a hand. That’s how it has to be, that’s what we do for one another. And if we are that way our country will be stronger, more prosperous, more ready for the future.“
Nur so ist es nach Bidens Auffassung auch möglich, das zu verwirklichen, was als The American Mission bekannt ist: den Auftrag der Vereinigten Staaten in der Welt. Er ist eng mit dem American ideal verbunden, dem Eintreten für die Gleichheit der Menschen und die Menschenrechte sowie für Demokratie. Erklärtes Ziel Bidens ist es, die USA mit dieser Mission wieder als „the leading force for good in the world“ zu etablieren, zu einem „beacon to the World“ zu machen. Wie er sich dies vorstellt, macht er in einer Formulierung deutlich, die an den berühmten Satz von John F. Kennedy in seiner Inaugral Address erinnert und die geradezu als Formel für die Civic virtue gelten kann: „ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.“ [3] In deutlicher Anlehnung daran liefert Biden eine Formel für die American mission: „We’ll lead not merely by the example of our power but the power of our example.“
Die American mission ist als grundsätzlich puritanisches – und daher ur-US-amerikanisches Konzept – eng mit dem Providential supreme being (schicksalhaftes höheres Wesen) und seinem Wirken in der Welt verbunden – mit Gott. Zwar hat seit Franklin B. Roosevelt (1945) kein Präsident der Vereinigten Staaten mehr von seinem Volk als von Gott auserwählt und den USA als „God’s own Country“ gesprochen, [4] aber die religiöse Fundierung ihres Handelns betonen ausnahmslos alle Präsidenten. Auch für Biden ist es also selbstverständlich, schon zu Beginn seiner Rede hervorzuheben, dass sie alle an diesem Tag „as one nation under God“ zusammengekommen sind, auf „hollowed ground“ (später auch: „sacred ground“), auf dem er den „sacred oath“ geleistet hat. Selbstverständlich fehlt bei ihm auch nicht das in den Inaugural Adressess obligatorische Bibelzitat (bei ihm: Psalm 30,6) [5]. Und er ruft seine Landleute – wohl zum ersten Mal überhaupt in einer Inaugural Address – zu einem gemeinsamen stillen Gebet auf. Dabei ist er sich selbstverständlich bewusst, dass es in den Vereinigten Staaten die unterschiedlichsten Glaubensrichtungen gibt. Auch er selbst steht nicht in der puritanisch-protestantischen Tradition der USA, sondern ist nach John F. Kennedy erst der zweite Präsident des Landes mit katholischer Glaubenszugehörigkeit. Darauf weist er mit einer Referenz auf den Heiligen Augustinus hin: „the Saint of my church.“
Was die General policy principles (Grundprinzipien des politischen Handelns) angeht, hält sich Joe Biden wie alle seine Vorgänger in jüngerer Vergangenheit mit konkreten Aussagen zurück. Er beschränkt sich darauf, die wichtigsten Problemfelder (oben Abschnitt 8) zu benennen: „an attack on our democracy, and on truth, a raging virus, a stinging inequity, systemic racism, a climate in crisis, America’s role in the world.“
Dabei steht Biden fest zu der Verfassung, die er zu achten verspricht und in deren Sinne er sich auch für den Fortbestand der Demokratie in den Vereinigten Staaten einsetzt. Die „cause of democracy“, die Verteidigung des demokratischen Systens, die er sich auf seine Agenda gesetzt hat, beinhaltet selbstverständlich auch die Cooperation with Congress (Zusammenarbeit mit dem Kogress), auch wenn er diese nicht eigens erwähnt.
Eine Inaugural Address ist als Herzstück der rhetorical presidency – also der Gesamtheit der von einem Präsidenten gehaltenen Reden [6] – traditionell stark rhetorisch durchformt.
In Bidens Rede wird dies schon zu Beginn deutlich: Im zweiten und dritten Satz seines Redemanuskripts setzt er auf Alliterationen: „This is democracy’s day. A day of history and hope, of renewal and resolve.“ Gleich darauf bringt er eine erste Metapher: Er spricht davon, dass Amerika über Jahrhunderte hinweg ein Schmelztiegel (crucible) gewesen sei, ein Bild, auf das er später in seiner Rede zurückkommen wird, wenn er fordert, in der angespannten Lage die Temperatur herunterzufahren (lower the temperature). Das Signal, dass es sich um eine kunstvoll ausgestaltete Rede handeln wird, ist damit schon in den ersten Perioden in aller Deutlichkeit gegeben.
Dabei setzt Biden Metaphern eher zurückhaltend ein. Wie viele seiner Vorgänger bemüht auch er den Vergleich mit dem Winter – nicht zuletzt angesichts der rauen Jahreszeit, in der er wie sie seine Rede hält. Er spricht von der aktuellen Lage als „winter of peril and significant possibility“, als „dark winter“, den zu überstehen es alle Kräfte brauche. Zwei weitere eindrückliche Bilder sind jenes der Meinungsfreiheit als „Leitplanke der Demokratie“ („the guardrail of our democracy“) und das der Vereinigten Staaten als „Leuchtturm für die Welt“ (beacon to the world). Auch einer Personifikation bedient sich Biden, um die Gefahr zu verdeutlichen, in der sich die Welt aufgrund des Klimawandels befindet: „A cry for survival comes from the planet itself“.
Eine Vorliebe zeigen Biden und sein Redenschreiber Minay Reddy für Anaphern, also Wiederholung eines Wortes oder mehrerer Wörter zu Beginn aufeinanderfolgender Sätze oder Satzteile. Er spricht davon, das viel zu tun ist: „Much to do, much to heal, much to restore, much to build and much to gain.“ Er kündigt an, was konkret getan werden kann: „We can right wrongs, we can put people to work…, we can teach our children… We can overcome the deadly virus, we can rebuild work, we can rebuild the middle class…, we can secure racial justice and we can make America once again the leading force…“ Und wenig später ebenso: „We can see each other…, we can treat each other… We can join forces…“ Biden benutzt Parallelismen: „Let’s begin to listen to one another again, hear one another, see one another. Show respect to one another.“ Und als er einen Rückblick auf die Geschichte unternimmt, tut er dies von der Gegenwart aus – mit einem fünf Mal wiederholten „Here we stand….“. Der Weg zu Reihungen von Antithesen ist dann nicht mehr weit, wie der folgende Passus mit einem Hin- und Herspringen zwischen „not“ und „but“ belegt: „Thinking not of power but of possibilities. Not of personal interest but of public good. And together we will write an American story of hope, not fear. Of unity not division, of light not darkness.“ Und die Amerikanischen Werte bringt er effektvoll in einer asyndetischen Reihung, also in unverbundener Folge: „Opportunity, security, liberty, dignity, respect, honour, and yes, the truth.“ Ebenso reiht er die Themenkomplexe auf, die es in seiner Amtszeit anzugehen gilt: „an attack on our democracy, and on truth, a raging virus, a stinging inequity, systemic racism, a climate in crisis, America’s role in the world.“
Seine Gedankenführung lockert Biden durch das Einschieben eines Gegenarguments auf, gegen das er sogleich seine Beweise vorbringt: „unity can sound to some like a foolish fantasy these days…“ Und auch einen Passus mit rhetorischen Fragen weist seine Rede auf: „Are we going to step up? … Will we rise to the occascion? Will we master…? Will we meet our obligations?“
Sprachkünstlerische Akzente setzen Biden und sein Redenschreiber Minay Reddy zudem mit einem Wortspiel (need a hand/lend a hand) und mit der einprägsamen Antimetabole „not merely by example of our power, but the power of our example“.
Dazu treten eine Vielzahl direkter oder indirekter Zitate. Wenn Biden von „we the people who seek a more perfect union“ spricht, dann zitiert er, ohne es zu sagen, die Präambel der Verfassung. Und wenn er die „heroes“ erwähnt, „who gave the last full measure of devotion“ hören alle, die in der US-amerikanischen Geschichte bewandert sind, die Anspielung auf Abraham Lincolns Gettysburg Address. An anderer Stelle in seiner Rede, zitiert Biden Lincoln direkt. Ein Bibelzitat – bei Biden: Psalm 30, Vers 6 – ist ohnehin ein Muss in einer Inaugural Address. Biden fügt als Katholik allerdings auch ein markantes Wort von Aurelius Augustinus („the saint of my church“) ein – seine Definition eines Volkes als einer Menge, die durch „gemeinsame geliebte Dinge“ (common objects of their love) zusammengehalten werde. [7] Auch ein Zitat aus einem populären Lied, dem American Anthem, fügt Biden in seine Rede ein.
Eine besonders persönliche Note erhält Bidens Rede schließlich durch eine Anekdote, die er von seinem Vater erzählt. Biden berichtet, wie dieser nachts wachgelegen und an die Decke gestarrt habe, weil ihn große Probleme nicht zur Ruhe kommen ließen und er sich fragte „’Can I keep my healthcare? Can I pay my mortgage?’“ Die Botschaft, die Joe Biden mit dieser Episode an seine Zuhörer sendet ist klar: Er versteht die kleinen Leute, er kennt ihre Sorgen und Nöte, er war einer von ihnen und ist mit ihnen weiterhin eng verbunden. Er weiß, wie es ihnen geht – in seinen Worten: „I promise you, I get it.“ Und er unterstreicht seine Empathie wenig später mit einer anderen persönlichen Einlassung über die „Dinge des Lebens“: „There’s no accounting for what fate will deal you.“ Es ist nur eine Andeutung der Schicksalsschläge, die er in seinem Leben erfahren hat.
Die kurze Episode über seinen Vater macht deutlich: Joe Biden will mit seiner Rede auch die ‚kleinen Leute‘ erreichen, die Durchschnitts-Amerikanerinnen und -Amerikaner. Als Spielform der Festrede bedient eine Inaugural Address traditionell eher hohe sprachliche Register, Biden jedoch durchbricht die Erwartung zwei Mal bewusst. Zwar spricht er seine Zuhörerschaft wie üblich vor allem als „My fellow Americans“ an, aber dann in zwei Passagen ganz umgangssprachlich als „folks“ (auf Deutsch etwa „Leute!“). Die Geste ist klar: Er will zeigen, dass er für alle da ist und mit allen auf Augenhöhe die Vereinigen Staaten voranbringen will. Die Amplitude der Sprachhöhe schlägt bei den Zitaten nach oben aus, sonst aber zeigt sich Biden sprachlich als Mann des Volkes. Er weiß: Um seine Vorhaben mit breiter Unterstützung umsetzen zu können, braucht es mehr als Worte („the future of America requires so much more than words“). Aber die rechten Worte gut adressiert, können schon viel bewirken.
Joe Biden hat mit seiner Inaugural Address eine eindrucksvolle Rede gehalten, in der er fast alle traditionellen Themen präsidialer Inauguralrhetorik behandelt. Nach dem Sturm auf das Kapitol will er mit der Rede die politische Spaltung in den USA überwinden und die Kräfte im Land bündeln, um die Vereinigten Staaten nach innen und außen zu stärken. Bidens Inaugural Address ist den Erwartungen an diese Redeform gemäß rhetorisch gut durchformt und mit einem eingeschobenen stillen Gebet sogar originell. Sprachlich reicht sie punktuell aber auch ins kolloquiale hinunter und das durchaus mit Absicht: Biden will alle US-Amerikanerinnen und –Amerikaner erreichen, um mit ihnen zusammen seine hoch gesteckten Ziele umzusetzen.
[1] Der Text der Rede: https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/01/20/inaugural-address-by-president-joseph-r-biden-jr/ Die Gliederung habe ich vorgenommen. Die Anfänge der Abschnitte können im offiziellen Redemanuskript ausgemacht werden: (1) This is America’s day. (2) Millions of jobs have been lost. (3) To overcome these challenges. (4) We can see each other not as adversaries, but as nighbours. (5) My fellow Americans. (6) To all those who supported our campaign… (7) My fellow Americans, in the work ahead of us we’re going to need one another. (8) Folks, it’s time of testing. (9) It’s time for boldness for there‘s so much to do. – [2] David F. Ericson: Presidential Inaugural Addresses and American Political Culture, in: Presidential Studies Quarterly 27 (1997), S. 727-744. – [3] John F. Kennedy: Inaugural Address, Januar 20, 1961, Capitol Steps, Washington ,D.C., in: Davis Newton Lott (Hrsg.): The Presidents Speak. The Inaugural Addresses of the American Presidents, from Washington to Clinton. New York 1994, S. 315. – [4] Franklin D. Roosevelt: Fourth Inaugural Address, January 20, 1945, White House, Washington, D.C., in: IV. Inaugural address. In: Davis Newton Lott (Hrsg.): The Presidents Speak. The Inaugural Addresses of the American Presidents, from Washington to Clinton. New York 1994, S. 289f. – [5] Psalm 30,6: Vulgata: „Ad vesperum demorabitur fletus, Et ad matutinum laetitia“. Einheitsübersetzung: „Wenn man am Abend auch weint, am Morgen herrscht wieder Jubel“. – [6] Dazu: James W. Ceasar, Glen E. Thurow, Jeffrey K. Tulis, Joseph Besette: The Rise of the Rhetorical Presidency. In: Presidential Studies Quarterly 11 (1981), S. 351-357: Jeffrey K. Tulis: The Rhetorical Presidency, Princeton, N.J. 1987. – [7] Aurelius Augustinus: De civitate Dei (Vom Gottestaat), XIX, Kap. 24 (PL Migne, Bd. 41, Sp. 655): „Populus est coetus multitudinis rationalis verum quas diligit concordi communione sociatus.“